Die Sonne geht auf – und die Stimmung an der Strandpromenade ist wunderschön. Ich bin aus dem Bett in die Klamotten gesprungen und habe meine Schlüssel, wie abgesprochen, im Zimmer gelassen. Nur wenige Minuten nach dem Weckerklingeln bin ich schon auf dem Weg zum Bahnhof und kann das, was ich gestern Abend in der Dunkelheit gesehen habe, nun auch bei Tageslicht betrachten: Den Blick von Reggio di Calabria rüber nach Sizilien. Auch der Ätna-Gipfel ist wieder frei und wird von der Sonne angeleuchtet.
Am Bahnhof steht mein IC nach Taranto schon bereit. Es ist ein besonderer Zug auf einer besonderen Strecke. Nur zweimal am Tag hat man die Möglichkeit, mit diesem Zug die komplette „Sohle“ des italienischen Stiefels abzufahren. Die Strecke ist weitestgehend eingleisig und nicht elektrifiziert. Eine Diesellok zieht deshalb meinen Drei-Wagen-Intercity. Ob es sowas sonst in Italien noch einmal gibt? Ich weiß es nicht, habe bisher aber noch nicht von einem weiteren Diesel-IC gehört.
Ich habe im letzten Wagen reserviert. Dort waren, als ich gebucht hatte, noch alle Plätze frei. Man konnte seinen Wunschplatz online grafisch auswählen. Ich gehe also in den letzten Wagen, mein Platz ist glückerweise sogar meerseitig und in Fahrtrichtung (man kann bei Einzelwagen ja nie wissen, wie herum sie stehen und das bei der Reservierung also nicht berücksichtigen). Der Wagen ist etwas anders als die „normalen“ IC-Wagen, die ich bisher kannte. Es gibt Vorhänge statt Sonnenblenden, die man von oben herunterziehen kann, die Sitze sind anderer Bauart und weniger bequem und, und das finde ich gerade nicht so praktisch, es gibt keine Steckdosen. Aber gut, ich bin hier alleine, was will ich mehr?
Der Zug setzt sich pünktlich in Bewegung. Kurz nach der Ausfahrt sehe ich viele abgestellte (teils ältere) Reisezugwagen, Fernverkehrs- und Regionalverkehrswagen, viele von ihnen in traurigem Zustand, beispielsweise mit kaputten Fenstern. Mir scheint, das hier ist einer der Zugfriedhöfe Italiens.
Kurze Zeit später kommt der Schaffner in den Wagen gelaufen und ruft etwas auf Italienisch zu mir. Als er näherkommt, mache ich ihm klar, dass ich nicht verstehe. Dann sagt er mir sowas wie „close“ und deutet Richtung des nächsten Wagens. Er scheint aber auch nicht gut Englisch zu verstehen, so dass ich darauf verzichte, ihm zu erklären, dass ich in diesem Wagen reserviert habe. Und warum dieser geschlossen sein soll, verstehe ich auch nicht. Ich habe aber eine Vorahnung.
Zunächst mache ich mich also mit meinen Sachen auf in den mittleren Wagen. Auch dieser ist recht leer, aber ein paar Fahrgäste sitzen hier. Ich suche mir einen netten Platz und mache mich breit. Ob ich hier bis zur Endstation bleiben kann, weiß ich nicht. In den Fernverkehrszügen Italiens herrscht Reservierungsplicht. Zwar ist es den Schaffnern, wie in meinem Fall, häufig egal, ob man dann auf dem gebuchten Platz sitzt oder auf einem anderen, aber wegen der Pflicht sind im Zug keine Reservierungen angeschlagen, sodass man nicht weiß, ob ein Platz reserviert ist und, wenn ja, ab wann. Ich muss also hoffen.
Und dann gibt es da noch eine andere nervige Eigenart in Italien: In den IC-Wagen werden über Nacht vom Personal offenbar immer alle Sonnenschutze runtergezogen. Wenn man also morgens einsteigt, sind vor allen Fenstern die Jalousien heruntergelassen. Dabei ist das doch einer der Vorteile eines Großraumwagens gegenüber eines Abteilwagens: Man kann mehr von der Umgebung draußen sehen, weil man auch durch die Fenster mehrere Sitzreihen weiter blicken kann. In meinem Umfeld sitzen keine weiteren Fahrgäste, die mich komisch angucken könnten, also ziehe ich neben mir und bei den drei Fensterreihen vor mir erstmal alle Jalousien nach oben. So lässt es ich schon besser aushalten. Praktischerweise ist dieser Wagen auch von der Bauart, die ich schon kenne. Das heißt, es gibt Steckdosen und die Sitze sind bequemer.
Die ersten Kilometer ist die Strecke noch zweigleisig und elektrifiziert, weil bis Melito di Porto Salvo noch die Züge dieses S-Bahn-artigen Verkehrs rund um Reggio di Calabria fahren. Dabei habe ich rechts einen wunderschönen Blick auf Sizilien und den Ätna.
Dann geht es weiter auf der eingleisigen Dieselstrecke und wir entfernen uns immer weiter von Sizilien. Ich kann den Ätna noch sehen, wenn ich zurückgucke. Wir fahren hier gerade quasi die „Zehenspitze“ des Stiefels ab, weshalb dann irgendwann dann auch wirklich nichts mehr von der Insel zu sehen ist. Das Wetter ist teilweise bedeckt, dann ist aber auch wieder blauer Himmel zu sehen. Die Fahrt ist sehr entspannt, fast immer entlang der Strände. Ein paar Erhebungen gibt es hier und da, die Küste ist aber nicht im Ansatz so bergig wie auf der anderen Seite des Stiefels.
Ich genieße die ruhige Fahrt mit Musik im Ohr. Irgendwie ist das hier, obwohl der Zug nicht schleicht, entschleunigend und fast schon etwas meditativ. Bei Crotone geht es ein kurzes Stück durchs Inland, um eine Ausbuchtung abzukürzen. Dann weiter entlang der Küste. Nach und nach steigen mehr Fahrgäste zu. Irgendwann kommen dann auch zwei jüngere Italienerinnen zu mir an den Vierer. Ich ahne, dass sie eine Reservierung für meinen Platz haben. Sie diskutierten kurz laut auf Italienisch, ich verstehe nichts, aber sie sprechen mich auch nicht direkt an. Anschließend setzen sie sich auf die beiden Plätze mir gegenüber, auch eine gute Lösung.
Die Fahrt bis Taranto dauert sechseinhalb Stunden und zieht sich dann am Ende doch etwas, weil es irgendwann nicht mehr viel Neues zu sehen gibt. Ich bin dankbar, als ich die Hafenkräne von Taranto sehe und wir in Bahnhof einrollen. Trotzdem bereue ich nicht, auch diesen Teil der italienischen Küste einmal gesehen zu haben.
Der Bahnhof wirkt weitläufig, es gibt vier Bahnsteige. Der ankommende Intercity ist der einzige Zug, der zu sehen ist. Der nächste abfahrende Zug ist der IC nach Rom, der in einer guten Stunde fährt und den ich nehmen werde.
Das Gebäude wirkt von außen schick, ganz im typischen Stil italienischer Bahnhöfe. Innen ist es offenbar vor geraumer Zeit modernisiert wurden, aber es herrscht tote Hose. Eine Bar ist zwar ausgeschildert, die Räumlichkeiten, in denen sie sein soll, sind aber leer und verwaist. Es gibt hier nichts, nicht einmal einen Automaten. Dabei hätte ich gerade Lust auf eine gekühlte Cola.
Laut Karte soll es sowas wie eine Innenstadt geben. Ich laufe in die Richtung, im Wissen, es vermutlich nicht ohne zeitlichen Stress bis dorthin zu schaffen. Was ich aber auf dem Weg sehe, ist eher abschreckend. Die Häuser in Bahnhofsnähe wirken heruntergekommen, es ist kaum ein Mensch zu sehen, Infrastruktur wie Supermärkte oder Geschäfte gibt es nicht, Gastronomie auch nicht. Das hier wirkt, selbst bei Tag, beinahe wie eine heruntergekommene Gruselstadt, in der man einen Horrorfilm drehen könnte. Ich gehe noch ein paar Meter weiter bis zu einer Brücke über einen Seitenarm des Meeres, mit dem blauen Himmel sieht das hier sogar fast schön aus, dann drehe ich wieder um. Meine Cola werde ich hier wohl im Umfeld nicht bekommen.
Zurück am Bahnhof, wurde mittlerweile am Hausbahnsteig der IC bereitgestellt. Diesmal einer mit einer „normalen“ Länge, mit Steuerwagen und Lok. Einsteigen kann man noch nicht, die Türen sind noch verschlossen. Ich laufe daher den Bahnsteig ab, auf dem sich zunehmend weitere Fahrgäste einfinden. Fünf Minuten vor Abfahrt sind die Türen immer noch zu, dafür rennt Personal im Zug hin und her – das kann man durch die Fenster sehen – und versucht verzweifelt, die Türen zu öffnen. Offenbar gibt es technische Probleme. Auch der Fahrdienstleiter schaut aus seiner Tür im Bahnhofgebäude hinaus und schüttelt nur den Kopf. Fünf Minuten nach Abfahrtzeit meldet die Anzeige dann fünf Minuten Verspätung. Irgendwann nach über 10 Minuten scheint das Personal dann aber das Problem gelöst zu haben, die Türen öffnen sich und alle Fahrgäste steigen ein.
Ich habe einen Platz in der 1. Klasse gebucht – die gab es vorher im kurzen IC gar nicht. Auch in meinem Wagen sind wieder alle Jalousien heruntergelassen. Ich öffne ein paar und nehme Platz. Der Wagen füllt sich etwa zur Hälfte, und mit gut einer Vierstunde Verspätung geht es dann los.
Die Fahrt bis Bari dauert etwa eine Stunde. Der Zug fährt dabei weitestgehend durchs Inland und kürzt so – ich entschuldige mich für die vielen Stiefel-Metaphern – den Absatz ab. Dabei gibt es vor allem am Anfang ein paar nette Ausblicke über die Landschaft: Der Zug fährt mehrere Kilometer in Hochlage, teils über Brücken, um dann in mehreren Tunneln ein Gebirge zu durchqueren. Kurz möchte ich mir noch am Automaten des ehemaligen Speisewagens (traurig) eine Cola ziehen, aber der ist offenbar gerade außer Betrieb. Vielleicht hängt das mit den technischen Problemen von der Abfahrt zusammen. Auch die Steckdosen geben nämlich keinen Strom ab.
Mit nur noch 10 Minuten Verspätung erreicht der Zug den Bahnhof von Bari. Die Sonne geht gerade unter und die Lichtstimmung ist schön. Schön ist es auch, wieder in einer Stadt mit Leben angekommen zu sein, nach der Geisterstadt Taranto.
Meine Unterkunft, erneut ein Bed & Breakfast, ist direkt am Bahnhofsplatz gegenüber in einem unscheinbaren älteren Haus. Auch hier fängt mich der junge Mann, der mich heute eincheckt, direkt am Eingang ab und geht mit mir nach oben, wo sich irgendwo die Räume der Unterkunft befinden. Anders als das Haus, wirken sie halbwegs modern und ich bin hier diesmal offenbar auch nicht der einzige Gast. Von meinem recht großen Zimmer aus habe ich sogar einen Blick auf das Bahnhofsgebäude.
Der junge Mann erklärt mir im ordentlichen Englisch mit viel Charme und Überzeugung alles, was ich zur Unterkunft und zur Stadt wissen muss. Er ist dabei sehr kumpelhaft und überzeugt von dem, was er mir da präsentiert. Nicht zuletzt das WLAN-Passwort „bestroomsinbari“ passt wunderbar zu seiner Einstellung.
Nachdem alles geklärt ist, lässt er mich allein. Ich lege meinen großen Rucksack im Zimmer ab und mache mich auf zur Stadterkundung. Eine Fußgängerzone führt in Richtung Altstadt. Alle paar Meter wird sie durch Seitenstraßen unterbrochen, auf der Autos fahren. Das macht es etwas unschön. Schnell voran – ich will schließlich etwas essen – komme ich auch nicht, weil so viele Menschen unterwegs sind, die hier bummeln. Die Geschäfte scheinen auch alle geöffnet – auch nach 18 Uhr an einem Sonntag. Das Ladenschlussgesetz ist hier offenbar recht locker.
Abgesehen davon findet man hier die üblichen Ketten, die Fußgängerzone könnte sich auch in vielen anderen Städten Europas so befinden. Und natürlich ist auch hier alles weihnachtlich beleuchtet. Sogar ein beleuchteter Stern mit Schweif ist hier zu bewundern.
Am Ende der Fußgängerzone stärke ich mich dann erstmal erneut beim goldenen M – ich muss halt dringend meinen Magen voll bekommen und habe keine Lust, mir noch lange ein ordentliches Restaurant zu suchen. Dann laufe ich eine Runde durch die schöne Altstadt, die auch teils weihnachtlich geschmückt ist, bis zum Hafen.
Bari ist mir ein Begriff als wichtige Hafenstadt. Von hier aus gibt es Fähren auf die andere Seite der Adria, etwa nach Kroatien oder auch nach Bar in Montenegro (wobei es derzeit keinerlei Info gibt, dass diese Linie noch bedient würde). Ich schaue mich am Hafenterminal ein wenig um. Ein paar Menschen sind hier und es steht eine größere Fähre bereit. Mich beeindrucken solche großen Schiffe immer. Wohin dieses fährt und wann, kann ich auf die Schnelle aber nicht herausfinden. Noch herrscht hier die Ruhe vor der Beladung.
Vielleicht komme ja irgendwann nochmal hierher und fahre mit einer Fähre nach Bar, sollte es die Linie tatsächlich geben. So könnte man sich die nervige Fernbus-Anreise sparen und von dort mit der Bahn weiter nach Belgrad fahren.
Durch die Innenstadt und ein paar enge Gassen geht es zurück, wieder durch die Fußgängerzone in Richtung Bahnhof und Unterkunft – und auch heute lande ich, nachdem ich im Bahnhofs-Supermarkt noch Proviant für morgen eingekauft habe, recht früh wieder im Bett.
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