Der Tag beginnt mit einem Frühstück im Hotel. Es besteht vor allem aus Croissants, Zwieback, Nutella und Marmelade. Da ich weder Croissants noch Nutella vertrage, esse ich mit Marmelade bestrichene kleine Zwiebacke, von denen ich einige brauche, bis mein Magen halbwegs gefüllt ist. Bestens ist dagegen auch hier der Espresso, den mir die nette Dame, die sich um das Frühstück kümmert, zaubert. Irgendwie schmeckt der nirgendwo so gut wie in Italien.
Ich packe meine Sachen zusammen, verabschiede mich und laufe einmal quer über den Bahnhofsplatz. Mein Zug steht schon bereit – der letzte Regionalzug für die kommenden gut sieben Stunden. Es ist ein moderner „Pop“-Triebzug. Diese Züge gab es bei meinem letzten Besuch auf Sizilien noch nicht und nun dominieren sie bereits den Nahverkehr auf Sizilien, so zumindest mein Eindruck gestern aus dem Nachtzug.
Obwohl er recht neu ist, wirkt er schon wieder leicht runtergekommen. Von außen ziert ein großes Grafitti das Fahrzeug und innen sind an den Tischen bereits manche Abdeckungen der Mülleimer abgebrochen und die Toilette schaut auch nicht gerade einladend aus. Diesen abgeranzten Eindruck hatten bei meinen letzten Besuchen auch die Minuetto-Triebwagen gemacht. Möglicherweise ist das auch ein sizilianisches Problem, dass man hier die Züge nicht ordentlich pflegt. Schade. Das macht so viel aus an Aufenthaltsqualität. Es ist vergleichsweise egal, wie alt oder neu ein Zug ist, wenn er ordentlich sauber und funktionierend gehalten wird.
Ich finde dennoch ein nettes Plätzchen meerseitig, behalte aber meine Jacke zunächst einmal an, denn es ist – entschuldigt das Wort – arschkalt. Neben mir steigen bereits einige Fahrgäste in Siracusa zu. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sich ein höheres Zugangebot an Feiertagen nicht lohnen würde.
Wieder geht es entlang der Küste und heute kann man ich sogar sehen: Den Ätna, wie er über allem thront. Der Zug fährt immer näher auf ihn zu.
In Catania füllt sich der Zug dann nochmal mehr. Jetzt sitzt in fast jeder Sitzreihe mindestens ein Fahrgast und ich befinde nun an der falschen Seite, zumindest für den Ätna, denn er ist nun natürlich landseitig zu sehen, während man an ihm vorbeifährt. Gott sei Dank wird eine Zweierreihe nebenan frei, sodass ich kurzzeitig hinüberwechseln kann für den Blick und ich paar Fotos.
Dann aber schnell wieder auf die Meerseite, denn die Buchten von Taormina möchte ich natürlich auch betrachten. Wie schön, dass ich heute Abend hier einen Stopp einlege.
Dann kommt das Festland wieder in Sicht, und nach insgesamt rund drei Stunden Fahrt erreicht der Zug Messina. Er wird abgestellt, nachdem wir Fahrgäste ausgestiegen sind. Schließlich fährt auch hier erst in zweieinhalb Stunden der nächste Regionalzug zurück nach Catania (oder alternativ auch einer auf der Strecke nach Palermo). Immerhin sind zweieinhalb Stunden Aufenthalt aber keine gut sieben Stunden wie in Siracusa.
Es ist das erste Mal, dass ich in Messina richtig aussteige. Sonst waren es immer nur die kurzen Spaziergänge auf dem Bahnsteig bis zur Abfahrt des Nachtzuges. Die Bahnhofsanlagen sind sehr weitläufig und scheinen teilweise verfallen zu sein. Wahrscheinlich gab es eine Zeit, zu der hier deutlich mehr Betrieb herrschte.
Eine der Rangiereinheiten setzt sich in Bewegung, um den Nachtzug aus Mailand von der Fähre zu ziehen. Ich beobachte das Spektakel, bei dem ich gestern noch selbst im Zug war, vom Bahnsteig aus.
Dann gehe ich in Richtung des Fähranlegers. Die Bahnhofshalle von Messina Centrale geht über in die von Messina Marritima, der Fährstation der italienischen Bahn. Auch dieser Fährbahnhof hat schon bessere Zeiten gesehen. Es wirkt alles wie ausgestorben. Der Fahrkartenschalter für die Fähren ist geschlossen, der Zugang zu den Fährbrücken gesperrt. Die Zufahrt vor der Tür für Autos mit den Wartespuren ist ebenso verwaist. Sind hier früher auch Autofähren abgefahren? Die Anlagen sehen fast so aus. Es sind zwar einige Mitarbeiter hier zu sehen, doch dass hier– abgesehen von den Eisenbahnfähren mit den fünf Zügen pro Tag und Richtung (3x Nachtzug, 2x Intercity) – noch etwas fahren würde, wirkt nicht so. Im Hafen stehen mehrere Fähren bereit mit dem Logo der italienischen Bahn. Ob diese wohl noch fahren und, wenn ja, wann? Auch im Internet findet man dazu keine brauchbaren Informationen. Es wirkt jedenfalls alles so, als habe es hier auch schon einmal mehr Betrieb gegeben.
Wo die heutigen Autofähren zum Festland abfahren, die es natürlich geben wird, kann ich nicht ausmachen. Vielleicht nicht direkt hier am Hafen in der Stadt. Entlang des Zaunes suche ich aber den Abfahrtsort der Fußgängerfähren, die die italienische Bahn unter dem Namen „BlueJet“ betreibt und die ich morgen nutzen werde, um aufs Festland zu kommen mangels geeigneter Züge. Der Zugang zum Hafen durch den Zaun ist unscheinbar, aber ich finde ihn. Als Fahrkartenschalter dient ein kleiner Container, es sieht alles provisorisch aus. Dafür lässt man die schönen Gebäude mit den Fahrkartenschaltern wenige hundert Meter entfernt verwaisen. Das muss man nicht verstehen.
Ich laufe weiter entlang des Hafens, viel spannenden Betrieb oder spannende Schiffe kann ich hier nicht entdecken. Auch die Gehwege, die Straße und die Gebäude wirken verfallen. Das alles macht keine Werbung für Messina, die Stadt wirkt kaputt. Gleiches gilt für die Straßenbahn, die hier ihre Gleise und sogar eine Haltestelle hat. Die Bahn fährt noch, aber die Haltestelle und die Gleise sehen aber nicht danach aus. Wann die nächste Bahn kommt, wie Fahrplan bzw. Takt aussehen oder wo und wie es Fahrkarten gibt – dazu keine Infos. Vorhin hatte ich eine Bahn am Bahnhofsvorplatz gesehen. Nur deshalb weiß ich, dass der Betrieb läuft. Sonst würde ich das nicht glauben.
Ich laufe in eine Seitenstraße in Richtung eines Platzes, an dem es auch eine Straßenbahnhaltestelle und vor allem ein Fast Food-Restaurant gibt, bei dem ich meinen Hunger etwas stillen kann. Hier wirkt es zumindest etwas aufgeräumter und auch die Haltestelle nicht ganz so marode. Eine Bahn kommt aber nicht. Der Takt scheint, möglicherweise auch aufgrund des Feiertags, dünn zu sein.
Die ganze Zeit waren schon dunkle Wolken aufgezogen, jetzt beginnt es auch zu regnen. Vom vollen Fast-Food-Restaurant, in dem ich keinen Platz ergattern konnte, laufe ich die paar hundert Meter zurück zum Bahnhof. Hier begegne ich tatsächlich wieder einer Straßenbahn. Auch dieses Fahrzeug sieht ziemlich kaputt aus. Irgendwie traurig all das. Ich setze mich auf einen der Bahnsteige und esse Pommes und Burger, die ich mir „to go“ mitgenommen hatte.
Irgendwann wird dann der Regionalzug nach Catania bereitgestellt. Es ist wieder ein Pop-Triebzug, aber ein anderer als vorhin, ohne Graffiti. Etwa eine Stunde lang fahre ich nun, wieder vorbei an den Buchten von Taormina, bis der Zug dahinter im Bahnhof von Taormina-Giardini hält. Es ist einer der schönsten, vielleicht sogar der allerschönste Bahnhof, den ich kenne. Im Vorbeifahren hatte ich das schon mehrfach erahnt, jetzt kann ich es in Ruhe mit eigenen Augen sehen. Das Bahnhofsgebäude wirkt eher wie ein Kunstpalast, davor wachsen Palmen und Kakteen, als wäre das ein gut gepflegtes Privathaus mit Eisenbahnanschluss im Vorgarten. Wäre die Bahn in Italien, Fahrzeuge wie Bahnhöfe, sonst auch so – es wäre wohl die schönste und bestgepflegte Bahn Europas.
Wenn man irgendwo ankommen möchte, dann ja wohl hier. An diesem Bahnhof. Bilder sagen da mehr als tausende Worte.
Die nächste Herausforderung ist, zu meiner Unterkunft zu kommen. Der Bahnhof liegt etwas abseits vom eigentlichen Ort und dieser Ort besteht auch aus zwei Teilen: Dem eigentlichen Ortskern oben auf dem Berg und dem Ortsteil unten an der Küste, an den Buchten. Meine Unterkunft liegt unten und beim Buchen habe ich gar nicht so genau hingeschaut. Es sah auf der Karte auf die Schnelle so aus, als wäre das nur ein kurzer Fußweg. Beim genaueren Hinsehen ist es nun doch etwas mehr Weg, etwa drei Kilometer, und das entlang der Straße, denn einen expliziten Fußweg finde ich in der Karte nicht. Somit bin ich dann doch ganz froh, dass das Wetter schön ist und es nicht in Strömen regnet, dann wäre das eine sehr unangenehme Angelegenheit geworden.
Möglicherweise hätte es, wenn ich mich vorher darum gekümmert hätte, auch die Möglichkeit gegeben, sich ein Taxi zu bestellen oder sich vom Vermieter der Unterkunft abholen zu lassen, aber ich bin wie so oft einfach ins Abenteuer gefahren und muss jetzt schauen, wie ich es mache. Aber manchmal erlebt man dabei ja die schönsten Dinge. So wird das auch diesmal sein. Erstmal schaue ich mich aber doch noch nach Möglichkeiten um. Vor dem Bahnhof ist eine Bushaltestelle. Der Aushang des Fahrplans ist aber so uneindeutig, dass mir auch danach nicht ganz klar ist, ob, wann und wohin Busse fahren und wo man ein Ticket bekommt. Ich entscheide mich also für den Fußweg.
Dieser ist noch „rustikaler“ als erhofft, denn ich muss wirklich entlang der Straße laufen, die nicht einmal einen Fußweg hat. Immerhin arrangieren sich hier recht gut die Autos, die Gott sei Dank nicht extrem zahlreich kommen, und die anderen Fußgänger, denen ich auch begegne. Der Weg ist ansonsten ein Traum. Der Blick auf die Küste, die Buchten, die Landschaft, die Bahnstrecke dort irgendwo versteckt und am Berg das eigentliche Taormina. Etwa eine Dreiviertelstunde laufe ich, bleibe immer wieder stehen, mache Fotos im Abendlicht und merke, dass ich an einem der schönsten Orte gelandet bin, die ich je besucht haben.
Als ich im Ort ankomme, merke ich, dass ich außerhalb der Saison da bin. Hier sind mehrere Hotels, sie scheinen aber beinahe alle geschlossen. Auch mehrere Läden und Touristen-Kioske, die wohl nicht nur wegen des Feiertags nicht geöffnet sind, sondern sich eher noch im Winterschlaf befinden. Vielleicht bin ich gerade zum richtigen Zeitpunkt hier.
Im hinteren Teil des Ortes liegt meine Unterkunft, ein Restaurant ist angeschlossen, aber derzeit auch dicht, weil außerhalb der Saison. Ein netter junger Mann begrüßt mich an der Rezeption und zeigt mir mein Zimmer. Es ist spärlich eingerichtet, klein, aber völlig ok. Der Preis ist auch niedrig. Er empfiehlt mir, mit der Seilbahn hoch in den eigentlichen Ortskern von Taormina zu fahren. Die Seilbahn fahre bis 20 Uhr, wenn ich die letzte Fahrt verpasse, müsse ich eine lange Treppe laufen. Ich lache und sage, dass es ja noch genug Zeit sei bis 20 Uhr, schließlich zeige die Uhr gerade erst viertel vor fünf. Ich lasse also schnell meinen schweren Rucksack im Zimmer und gehe die paar Meter zur Talstation, an der ich gerade schon vorbeigekommen war. 3 Euro kostet das Ticket am Automaten für eine Fahrt. Die Bahn besteht aus mehreren kleinen Kabinen, die als Gruppe gekuppelt sind. Die meisten Passagiere meiner Fahrt scheinen Italiener zu sein, aber in der Schlange vor mir stehen auch drei Schweizer. Ich gebe aber nicht zu erkennen, dass ich das verstehe, was sie miteinander reden.
Nach kurzer Wartezeit können wir einsteigen und schweben nach oben. Die Aussicht ist traumhaft. Auf der Karte habe ich bereits sehen können, dass es oben in Taormina aber auch noch ein paar schöne Aussichtspunkte geben soll. Nachdem wir die Bergstation erreicht haben, geht es für mich nun auf einen Rundweg durch die Stadt.
Zunächst laufe ich durch eine lange Fußgängerzone. Auch sie ist weihnachtlich geschmückt, sehr belebt und auch die Geschäfte haben geöffnet. Ich komme kaum voran, aber genieße es, hier unter Menschen zu sein. Ob es weitestgehend Einheimische oder Touristen sind, weiß ich nicht. Falls es Touristen sind, scheinen es aber weitestgehend Italiener zu sein, so fühlt sich das hier auf jeden Fall nicht auf eine negative Art touristisch an.
Irgendwann komme ich an einen größeren Platz mit einer beleuchteten Tanne und mit Blick ins Tal und zum Meer. Eine tolle Aussicht im Abendlicht. Aber es wird noch besser. Über eine schmale Straße geht eine Kehre nach unten. Hier geht es nun direkt die Kante entlang, an der das Gelände zum Meer steil abfällt. Viele Menschen sind hier auch nicht unterwegs, es ist ruhig und die Aussicht ist ein Traum.
Ich laufe weiter, entlang einer Gartenanlage, die gerade für den Abend geschlossen wird, und komme wenig später an einen Ort, der sich für immer auf meiner Netzhaut einbrennen wird: Über eine paar Treppen komme ich von der Straße auf einen höher gelegenen Platz, quasi eine Aussichtsplattform. In der Dunkelheit ist am Zugang gar nicht zu erahnen, dass hier eine solche Aussichtsstelle ist, dank meiner Karte weiß ich es. Das sorgt dafür, dass ich hier in der nächsten Stunde fast ganz alleine bin. Ich gehe nach vorne und traue meinen Augen nicht. Es ist wie im Traum. Vor mir das Meer, der Vollmond, dessen Licht sich im Wasser des Meeres spiegelt, die Lichter entlang der Küste, hinten die des Festlandes, rechts und links die Siziliens. Der Sonnenuntergang, der Gipfel des Ätnas, der noch gerade zu erahnen ist. Der Fuß des Ätnas mit Catania und den vielen Lichtern der Häuser, die sich den Hang des Ätnas hochziehen. Direkt unter mir die Buchten Taorminas mit der Isola Bella.
Das, was ich hier sehen kann, könnte man sich nicht schöner ausmalen. Keine Worte können das beschreiben, anhand der Bilder kann man diese Eindrücke erahnen. Aber das muss man erlebt haben. Ich mache mir Musik in die Ohren. Enya. Musik, die ich sonst nicht regelmäßig hören würde, die aber mir irgendwie gerade in den Sinn kommt und die die Stimmung tatsächlich noch verstärkt.
Ich verharre auf der Bank, dann stehe ich wieder auf und am Zaun vorne. Ist das ein Traum oder erlebe ich das gerade wirklich? Es passt alles: Das Wetter, der Vollmond, Wolken, die sich zeitweise vor den Mond schieben, die Lichter. Kein Regisseur der Welt könnte das besser inszenieren. Und ich bin mir sicher: Das ist so ein „Once in a Lifetime“-Ding. Kaum vorstellbar, hier irgendwann nochmal zu stehen und den Moment nochmal so perfekt zu erleben mit all den Zutaten gerade.
Ich will gar nicht mehr weg, aber ich werde dann doch müde und, trotz der vergleichsweise milden Temperaturen, wird es dann doch irgendwann kalt, wenn man sich nicht bewegt. Nach einer ganzen Stunde breche ich also auf und lasse diesen magischen Ort an diesem magischen Abend mit dieser magischen Stimmung hinter mir und kehre zurück zur Seilbahn.
Da hier oben, anders als im Tal, alle Geschäfte offen haben, springe ich noch kurz in einen Supermarkt und hole mir eine Kleinigkeit zu essen und ein Bier. Dann fahre ich mit der nächsten Fahrt der Seilbahn ins Tal.
An der Talstation angekommen, nehme ich noch einen kleinen Umweg. Durch eine Unterführung geht es unter der Straße her auf eine Treppe runter zum Stand. Natürlich bin ich auch hier mutterseelenallein. Die Hotels um den Strand haben alle noch geschlossen. Ich stelle mich in den Sand, öffne mein Bier und versuche nochmal diesen besonderen Abend im besten Sinne zu „verdauen“. Dazu die Geräusche des Meeres, mal von weitem ein Auto, sonst nichts.
Ein paar Minuten verharre ich, dann kehre ich in meine Unterkunft zurück. Ich lege mich ins Bett und schaue mir auf meinem Handy die Videos von diesem Abend an und schneide mein allerstes Reel (kurzes Video) für Instagram darauf. Irgendwie möchte ich diesen Moment heute teilen – zumindest virtuell.
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