Manchmal schlafe ich im Nachtzug so gut wie gar nicht, manchmal richtig gut und natürlich gibt es auch alle Stufen dazwischen. Wann ich wie gut schlafe, kann ich selten wirklich erklären, es scheint mir zufällig zu sein. Diese Nacht ist aber eine der besonders guten. Vom Rangieren nachts in Salzburg oder Villach bekomme ich nichts mit. Als ich aufwache, sind wir bereits in Italien. Es ist halb sieben, und draußen ist es zu dieser Jahreszeit natürlich noch dunkel und kalt. Aber nicht nur draußen, leider gilt beides auch für drinnen. Der Strom im Wagen ist weg. Keine Lüftung und damit keine Heizung, mein Handy lädt nicht auf und Licht gibt es auch nur noch ganz schwach. Der Strom scheint also schon länger weg zu sein. Licht, WC-Spülung und Co. werden dann zunächst immer durch Akkus gespeist und nach und nach werden Verbraucher abgeschaltet, bspw. gibt es so zunehmend immer weniger Licht.
Ich gehe auf die Toilette, wasche mir die Hände. Ein bisschen Wasser tröpfelt noch aus dem Duschkopf, der oberhalb des Waschbeckens hängt und die Doppelfunktion Dusche/Wasserhahn hat. Der Wasserdruck ist dank des fehlenden Stroms auch nicht mehr da. Wer morgens duschen wollte, guckt in die Röhre.
Schnell zurück unter de Bettdecke. Hier ist es wenigstens halbwegs warm. Draußen ist es weiterhin dunkel und Nebel hängt über der Landschaft – viel ist nicht zu sehen. Ich erinnere mich an meine allerste Fahrt mit dem Nachtzug nach Venedig – damals noch unter der Regie der DB als CityNightLine. Es war im Sommerhalbjahr, ich wachte auf, draußen schien die Sonne und verbreitete eine große Vorfreude auf Venedig. Das war ein schöner Start in den Tag. Heute ist es so ganz anders. Gut, dass es draußen dunkel und winterlich ist, habe ich bewusst in Kauf genommen – wenn man eben Anfang Januar fährt. Die Kälte im Abteil müsste aber nicht sein.
Irgendwann reicht es mir dann und ich öffne die Abteiltür zum Gang, um zu signalisieren, dass ich bereits wach bin und frühstücken könnte. Für unseren Wagen scheint mittlerweile eine Frau zuständig zu sein, sie trägt nicht umsonst eine dicke Jacke und verteilt bereits Frühstück an andere Fahrgäste. Als sie mich an der offenen Tür sieht, fragt sie, ob ich nun auch frühstücken möchte. Ich bejahe und frage nach dem fehlenden Strom. Sie zuckt nur mit den Schultern. Innerlich werde ich ein bisschen sauer – bei dem Preis, den ich für dieses Abteil bezahle, erwarte ich zumindest, dass man mir das Gefühl gibt, dass man sich kümmert („wir suchen nach dem Fehler“, „wir haben ein Problem, weil…“ oder „wir erwarten, dass der Strom noch wiederkommt/nicht wiederkommt“) und nicht nicht kommuniziert. So erweckt es den Eindruck, dass es dem Personal egal ist, ob es eine technische Störung gibt oder am Ende vielleicht einfach der Lokführer vergessen hat, die Zugsammelschiene unter Strom zu setzen. Eine freche Unterstellung, die sicher nicht sehr wahrscheinlich ist, aber wenn es keine Infos gibt, kommen einem eben auch solche Gedanken.
Das Frühstück kommt mit einem warmen Tee. Irgendwo scheint es also doch noch Strom zu geben, oder diese Verbraucher werden noch höher priorisiert. Das Frühstück schmeckt, der warme Tee tut gut. Ich möchte mir danach meine Hände waschen, da gibt es aber nächste unschöne Überraschung: Mittlerweile kommt gar kein Wasser mehr aus dem Hahn und die Toilettenspülung funktioniert auch nicht mehr. Normalerweise mag ich den Morgen im Nachtzug, aber nun habe ich keine Lust mehr, dass ich hier ohne Toilette und Wasser noch anderthalb Stunden ausharren soll. Schnell wieder unter die Bettdecke, sonst ist es zu kalt.
Ich harre aus, surfe am Handy, irgendwann dämmert es draußen, es ist immer noch nebelig und das Wetter nicht einladend. Der Zug fährt immer kurz schnell, dann bremst er wieder, hält an, dann geht es weiter. Der Fahrplan hier in Italien ist großzügig. Trotz mehrerer Halte auf freier Strecke sind wir überall pünktlich. Gegen viertel vor acht rollen wir in Treviso ein. Bei der Einfahrt kann ich eine weitere ÖBB-Lok auf dem Nebengleis sehen. Sie wird uns hier offenbar hinten an den Zug angekuppelt.
Seit einiger Zeit dürfen nach Venedig, also auf die Insel, nur noch Züge, die hinten auch einen Führerstand (Triebzug, zweite Lok, Steuerwagen) haben, seitdem müssen die Nachtzüge und EC über den Brenner irgendwo eine zweite Lok bekommen, da sie sonst dieses Kriterium nicht erfüllen. Beim Nachtzug scheint dies also hier in Treviso zu passieren, weshalb hier ein längerer Halt eingeplant ist. Irgendwann geht es dann weiter und es passiert ein kleines Wunder: Das Licht leuchtet wieder komplett auf, die Lüftung geht an, mein Handy lädt. Der Strom ist zurück. Ob es an der zweiten Lok liegt und wirklich ein Defekt vorlag, oder der Lokführer nun daran gedacht hat, nach der Kupplungsaktion den Strom einzuschalten – ich werde es nie erfahren.
Nach all der Nerverei und Kälte hätte ich jetzt fast noch Lust auf eine weitere warme Dusche, aber dafür ist es mir nun noch knapp. Ich ziehe mich an, genieße die warme Luft, die wieder ins Abteil strömt und dann fahren wir auch schon in Venezia Maestre ein – dem Bahnhof auf dem Festland. Kurzer Halt, und dann geht es auf die Brücke, die Venedig mit dem Festland verbindet, die Ponte della Libertà. Rechts und links ist das Meer zu erahnen, viel zu sehen ist aber nicht, denn nach wie vor ist es sehr nebelig. Venedig hat mich auch schon freundlicher begrüßt. Die verdreckten Fenster verstärken das Grau.
Venezia Santa Lucia – dieser Bahnhofsname klingt wie Musik in meinen Ohren. Santa Lucia war laut Wikipedia der Name einer Kirche, die einst dort stand, wo der Bahnhof errichtet wurde. Es ist immer wieder ein Genuss, aus der Bahnhofshalle auf den Vorplatz zu treten und sofort vor dem Canal Grande zu stehen.
Am Morgen und erst recht zu dieser Jahreszeit ist Venedig noch vergleichsweise leer. Ich gehe also erst einmal entlang der Pfeile, die auf den Fassaden einiger Häuser angeschrieben sind, in Richtung Markusplatz. Venedig ist so verwinkelt mit so vielen kleinen Gassen, dass man sich hier mit einer Karte kaum orientieren kann. Meine Erfahrung: Einfach der Nase nach gehen und dabei eben ab und zu auf die Wegweiser auf den Fassaden achten, die aber manchmal auch nicht ganz konsistent wirken.
Ich habe für die nächste Nacht ein Hotelzimmer in Bozen gebucht, also sollte ich heute Abend dort sein. Dies ist die einzige Vorgabe für den heutigen Tag. Wie ich ihn ansonsten gestalte, wie lange ich auch in Venedig bleibe – da bin ich frei.
Der Himmel bleibt grau, es ist aber trocken, nicht allzu kalt und der Nebel ist nun nicht mehr so dicht, sodass der Spaziergang durch Venedig durchaus nett ist. Es ist schön nach einigen (Corona-)Jahren mal wieder hier zu sein, wenngleich ich hier schon schönere Besuche bei angenehmerem Wetter hatte. Irgendwann ist auf einem Wegweiser dann die Rialto-Brücke ausgeschildert. Ich entscheide mich spontan, dorthin zu gehen und damit auch wieder zum Canal Grande.
Mein Rucksack ist relativ schwer und ich gerade etwas fußfaul, da kommen mir die Wasserbusse doch sehr gelegen, die hier als ÖPNV verkehren. Ich löse ein Ticket und steige in das nächstbeste Boot ein. Ich genieße die Fahrt durch den Canal Grade an der frischen Luft und den Blick auf die vielen schönen Gebäude. So macht Sightseeing Spaß. Ich verspüre nicht einmal die Lust, am Markusplatz auszusteigen, sondern fahre einfach weiter bis zur Endstation, der Venedig vorgelagerten Insel Lido. Und direkt rein ins nächste Boot, eine andere Linie, die wieder zum Bahnhof fährt, allerdings nicht durch den Canal Grande, sondern durch den deutlich breiteren Canale della Giudecca. Durch diese breite Wasserstraße sind damals auch Kreuzfahrtschiffe „durch“ Venedig gefahren, seit Sommer 2021 ist dies verboten, zumindest für die größeren Schiffe.
Ich genieße die Fahrt, die, auch dank deutlich weniger Zwischenhalte, deutlich kürzer ist als durch den Canal Grande.
Für die Fahrt nach Bozen habe ich eine Idee: Nicht den direkten Weg über Verona fahren, sondern etwas verschlungen. Neben der Hauptstrecke, die von Verona über Trento nach Bozen führt, gibt es noch eine andere Möglichkeit, ins Etschtal zu kommen: Die sogenannte Valsuganabahn, die Venedig direkt mit Trento verbindet. Ein Flirt-Triebzug bringt mich zunächst von Venedig nach Bassano del Grappa. Die Fahrt ist nicht sonderlich spannend, es geht durch plattes Land und der Himmel ist immer noch weitgehend grau. Immerhin, der Nebel ist weg und es sind zunehmend ein paar bläuliche Stellen zwischen den Wolken zu erkennen.
In Bassano del Grappa habe ich dann ein paar Minuten Umsteigezeit. Hier endet nicht nur die Oberleitung und ich muss in einen Dieseltriebzug umsteigen, hier endet auch das flache Land: Der Übergang zwischen flacher Po-Ebene und den ersten höheren Bergen der Alpen ist immer recht plötzlich – das kenne ich auch schon von der Fahrt über die Brennerstrecke ab Verona. Hier ist es nicht anders.
Zum Einsatz kommt ein klassischer Minuetto-Triebwagen, wie sie vielfach in Italien fahren – es gibt sie in einer Diesel- und in einer Elektro-Variante. Der Großteil des Regionalverkehrs auf Sizilien war bei meinen letzten beiden Besuchen mit diesen Triebwagen gefahren worden, irgendwie löst das Sitzen in so einem Zug also Erinnerungen in mir aus. Dazu die klassischen bequemen blauen Ledersitze, wie man sie auch in vielen Regionalzügen verschiedener Typen in Italien findet. Ich fühle mich nun richtig angekommen.
Die Fahrt führt durch ein enges und teils felsiges Tal, die Strecke bietet viele spannende Ausblicke aus dem Fenster. Wahrscheinlich ist sie bei Sonne und bei Sommervegetation noch schöner anzuschauen. Die blassen Farben, die es im Winter draußen gibt, dämpfen immer etwas die Attraktivität. Von Schnee ist erstmal auch auf den Bergen nichts zu sehen. Ich erinnere nochmal daran, dass heute der 3. Januar ist. Normal dürfte das für diese Jahreszeit nicht sein.
Erst kurz vor Trento sind dann am Horizont einige weiße Gipfel in Richtung Alpenhauptkamm zu erkennen. Mit einer Schleife, um Höhe zu verlieren, geht es ins Tal hinunter nach Trento. In der Stadt wird die Strecke über ein Viadukt in den Bahnhof geführt.
Wieder habe ich einige Minuten Umstiegszeit, dann fährt erneut ein recht moderner Flirt-Triebwagen ein für die letzten gut 50 Kilometer bis Bozen. Die Fahrt durch das breite Etschtal ist schön, die Felswände der Berge, die das Tal westlich begrenzen, sind beeindruckend und dazu gibt es auch noch schönstes Abendlicht. Trotzdem bin ich froh, dann irgendwann in Bozen anzukommen.
Meine Unterkunft liegt in der Bozener Innenstadt, nur wenige Gehminuten vom Bahnhof entfernt. Vorbei geht es am Waltherplatz, auf dem ein Weihnachtsmarkt zum Verweilen einlädt, mit einer wunderbar leuchtenden Tanne. Hier scheint man die Weihnachtsmärkte und -beleuchtung, anders als vielerorts in Deutschland, nicht schon vor Weihnachten zu beenden.
Beeindruckend ist es hier immer, wie sich die Kulturen und Sprachen vermischen. Während in Südtirol die Menschen größtenteils Deutsch sprechen, dominiert in den größeren Städten (Bozen, Meran) das Italienische. Ich habe ein Zimmer im Kolping-Haus gebucht. Das klingt deutsch und an der Tür hängen auch ausschließlich deutsche Aushänge. Die Frau an der Rezeption dagegen scheint, das höre ich am Akzent, Italienisch als Muttersprache zu haben, spricht aber mühelos mit mir Deutsch.
In einer bekannten Fast-Food-Kette, die ihr Restaurant ganz in der Nähe hat und wo ich eine Kleinigkeit zu Abend esse, dominiert dagegen das Italienische. Auch in allen Aushängen, und auch die Mitarbeiter rufen die Nummern der Bestellungen nur auf italienisch aus.
Es ist gerade einmal kurz nach 18 Uhr, der Abend ist noch lang. Ich entscheide mich noch für einen kurzen Ausflug. Von Bozen aus, in der Nähe des Bahnhofs, führt eine Seilbahn in den Ort Oberbozen. Sie ist Teil des ÖPNV, hat deswegen Fahrtzeiten bis spät abends, und auch die Tarife sind günstig und nicht mit touristischen Seilbahnen zu vergleichen.
Am Automaten hole ich mir ein Ticket für eine Berg- und Talfahrt. Es handelt sich um eine Umlaufbahn mit mehreren Kabinen, die aber recht groß sind. Auf der Bergfahrt bin ich auch bei weitem nicht der einzige Fahrgast. Auch hier vermischen sich die Sprachen: Deutsch, Italienisch und vermutlich Touristen, die Englisch sprechen. Aus der Kabine, die Gott sei Dank nur schwach beleuchtet ist, hat man einen wunderbaren Blick ins Tal und die vielen Lichter. Gleichzeitig fährt man gefühlt ins Nichts, denn nach oben hin ist es dunkel, die Seile, an denen die Kabine hängt, sind kaum zu erkennen.
Nach einigen Minuten ist die Bergstation erreicht und somit der kleine Ort Oberbozen. Hier wiederum ist man wieder in einer komplett deutschen Welt angekommen, was die Sprache angeht. Es stehen einige Hütten rum, die wohl auch einmal einen Weihnachtsmarkt bildeten. Dieser scheint aber schon geschlossen zu sein.
Ich gehe ein wenig umher, blicke in Richtung Tal, in das man hier nicht direkt gucken kann, weil die Seilbahn über einen Bergrücken fährt und dann auf einer Art Hochebene noch eine gewisse Strecke zurücklegt. So ist man hier oben also nicht direkt an der Kante zum Tal.
Hier oben fährt auch die Rittner Bahn, eine Schmalspurbahn. Ein Zug fährt ein, endet und wird ins Depot gefahren. Ansonsten ein paar Hotels, Restaurant, in denen Licht brennt. Draußen ist es eher ruhig.
Nachdem ich hier oben eine gute halbe Stunde die frische Luft genossen haben, gehe ich wieder zur Bergstation. Es ist ruhig, im Vorraum der Station sitzen drei Personen auf einer Bank und machen zunächst keine Anstalten, in eine Kabine einsteigen zu wollen. Ich sehe meine Chance und schaffe es tatsächlich problemlos, eine eigene Kabine für die Talfahrt zu ergattern. Jetzt kann ich umherlaufen und mich auch „verrenken“, um den Blick auf das Lichtermeer besonders zu genießen und auch zu fotografieren.
Es ist ein Genuss. Selten habe ich etwas so Schönes gesehen. Nachts in ein erleuchtetes Tal in einer dunklen Kabine Seilbahn zu fahren – ich kann das nur zur Nachahmung empfehlen.
Mit diesen wunderbaren Eindrücken treibt es mich nun zurück in mein Zimmer. Es war ein Tag mit vielen Eindrücken, der kalt und mit eher schlechter Stimmung begann, aber mit einem glücklichen Gefühl endet.
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